Samstag, 13. Mai 2006
der mündige patient
ist ja ein lieblingsthema von frau kelef, sozusagen, ein ganz besonderes auch noch. dieser ausdruck geistert seit bald 20 jahren durch das gesundheitswesen, und immer noch erzeugt er gänsehaut bei vielen menschen. auch frau tante dockta pepa alteriert sich immer wieder darüber.

jetzt fragt frau kelef aber seit langem, sich selbst und andere, ob man ihr denn diesen ausdruck erklären könne. natürlich fällt kennern der person der lieben frau kelef dazu sofort ein, dass ein ehemaliger geschäftsführer einer firma, für die frau kelef arbeitete, einmal sagte (und zwar als ernstgemeinte warnung, mitten in einer riesenbesprechung): passen sie bloss auf. wenn frau kelef sagt: "und kann man mir das bitte erklären" dann gibt man ihr am besten ganz schnell recht und verlässt mindestens ebenso schnell den raum. der mann kannte frau kelef sehr gut.

jedenfalls: der mündige patient. was soll das sein? einer, der fünf verschiedene arztmeinungen einholt und dann selber entscheidet, ob er jetzt ein künstliches hüftgelenk braucht oder nicht? einer, der selber weiss wie er seinen bluthochdruck oder seinen blutzucker medikamentös richtig einstellen kann? einer, der - wenn auch vielleicht sehr mühsam - begreift, dass occlusivverbände mit cortisonhältigen salben nicht das wirkliche mittel der wahl zur entfernung von hühneraugen sind? einer, der genau weiss welches antibiotikum er bei welcher infektion braucht? oder die frau, die weiss wann eine gburt eingeleitet werden muss oder wann doch ein kaiserschnitt angebracht ist? oder doch eher derjenige, der bei metastasierenden tumoren seine chemotherapie selber wählen kann? derjenige, der seine röntgenbilder (deren erstellung er natürlich selbst anordnet) auch gleich selber interpretiert?

und noch etwas: behördlicherseits wird grosser wert darauf gelegt, dass fachinformationen für ärzte und apotheker aber auch jeden furz enthalten, der einem nur einfallen kann. was ja gut ist. der mündige patient jedoch hat im normalfall keinen zugriff auf diese fachinformationen, sogar wenn er sie verstehen könnte. für den wird eine kurzfassung, der beipackzettel, erstellt, tausendmal bequatscht von fachleuten und behördlich genehmigt und so weiter und so fort. hat die fachinformation aber z.b. 10 seiten, hat der beipackzettel nur 3 seiten, man könnte auch sagen ein viertel der information.

diese gesetzlich vorgeschriebenen beipackzettel (heute gebrauchsinformationen genannt) verstehen 99 von 100 patienten aber sowieso nicht. sicherheitshalber haben eu und emea und noch ein paar kluge vereine jetzt auch noch ein vereinheitlichtes wörterbuch, meddra genannt, ins leben gerufen. da wissen dann pharmaindustrie und ärzteschaft, dass es beispielsweise (aber nur für patienten) "erkrankungen des mittelfellraumes" gibt, und mit der bezeichnung "ameisenlaufen" ist der patient sicherlich auch sehr gut informiert über eine etwaige nebenwirkung.

was soll denn der unfug? ohne jemandem nahetreten zu wollen: frau kelef kennt sich wirlich ganz gut aus. trotzdem: wenn sie krank ist, geht sie zum arzt. sie hat nämlich einen guten, vertrauenswürdigen hausarzt der guten alten schule, seit bald dreissig jahren. der führt seit anbeginn eine ordentliche kartei, hat akribisch genaue aufzeichnungen quasi über jeden flohbiss, eine anzahl von vertrauenswürdigen fachärzten, bei denen man bei bedarf sofort einen termin bekommt, und so ist das gut und so soll es sein. das ist, mit verlaub, mündigkeit genug für einen patienten.

wie soll denn jemand, der bäcker, vekäufer, wirtschaftsfachmann, mechaniker, landschaftsarchitekt oder marketingfachmann ist, entscheiden können welche behandlung oder welches medikament richtig ist? müsste patient da nicht erst medizin studieren, um mitreden zu können? oder redet patient mit und weiss gar nicht, wovon geredet wird? woher soll denn bitte der geflügelzüchter oder der geschäftsführer einer lebensmittelkette wissen, welche konsequenz welche behandlung haben kann und wird?

oder auch umgekehrt: redet der mediziner dem architekten drein, wenn es um die berechnung des fundamentes eines zu bauenden hauses geht? nein. der medizinmann sagt zum hausbaumann: bau mir ein haus, das nicht zusammenfällt, und nicht einstürzt. wie, musst du selber wissen. und medizinmänner sind doch im allgemeinen ebenso über sieben jahre alt wie der "mündige patient".

aber wahrscheinlich ist die medizinkunst einfacher zu durchschauen als das planen und berechnen und bauen eines fundamentes für ein haus.

frau kelef sind auch wenige baumeister bekannt, die dem automechaniker sagen, wie er ein auto reparieren soll. ebensowenig kennt sie schuster, die dem bäcker erklären wie er brot oder kuchen backen soll. und die besten köche der welt sitzen im flugzeug auf ihren sitzen, und geben dem piloten keine ratschläge wie er den landefanflug konzipieren soll, während die piloten sich im allgemeinen sehr selten in die marketingstrategien der flughäfen einmischen, und auch die frisöre den schneidern nicht allzu oft erklären, wie man denn genau einen reissverschluss einnäht.

diese mündigkeit des patienten erinnert so fatal an die sache mit der emanzipation. viele frauen wollen zwar die rechte, nicht aber die pflichten, und sind somit die grössten feinde ihrer selbst.

aber wahrscheinlich hat das der frau kelef wieder einmal keiner erklärt. irgendwelche freiwillige hier?

der ideale bepackzettel schaut in frau kelefs augen übrigens so aus: ein vordruck: .... stück am tag, wenn's dich juckt, geh zum bader. kann universell eingesetzt werden, einheitlich für jedes präparat, muss man nur mehr die anzahl einsetzen. würde die medikamentenkosten drastisch senken, und damit das defizit im gesundheitswesen verkleinern. der spruch wurde zwar schon fast zur legende, aber unsere behörde konnte sich der idee offiziell noch nicht anschliessen (obwohl es schon eine kleine fangemeinde gibt).

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Naja ...
- "müsste patient da nicht erst medizin studieren, um mitreden zu können?"
Das hätten viele Mediziner auch vorsichtshalber tun sollen.

- "einer, der fünf verschiedene arztmeinungen einholt und dann selber entscheidet, ob er jetzt ein künstliches hüftgelenk braucht oder nicht?"

Dem bleibt nicht viel anderes übrig. Irgendjemand muss ja nach fünf Ärzten und fünf verschiedenen Meinungen eine Entscheidung treffen. Da ich in meinem Körper lebe und ihn kenne, verzichte ich darauf, alle Namen auf Zettel zu schreiben und einen zu ziehen, und nehm lieber gleich mich.

- "wenige baumeister bekannt, die dem automechaniker sagen, wie er ein auto reparieren soll"

Hätte die Geisteswissenschaftlerin aber dem Automechaniker gesagt, wie er das Auto reparieren soll, wäre sie nicht mit Bremsversagen liegen geblieben. Eine Erfahrung, die sie nicht wiederholen möchte.

- "woher soll denn bitte der geflügelzüchter oder der geschäftsführer einer lebensmittelkette wissen, welche konsequenz welche behandlung haben kann und wird?"

Weil er seinen Körper kennt?

Wir können für jedes dieser Beispiele Pros und Kontras finden. Wenn alle ein bisschen mitdächten, wäre es halt leichter. Das ist ein Geben und Nehmen von beiden Seiten.

Ich jedenfalls fühl mich von Medizinern nicht besonders gut bedient und halte mich fern von ihnen, wo es nur geht - was die Medikamentenkosten besonders drastisch gesenkt hat. Wenn ich tatsächlich all das gefressen und gemacht hätte, was mir verordnet wurde ...

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ja.

ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch nur die Therapie vorgeschlagen wird, die von der Kasse gut bzw. überhaupt bezahlt wird. Kein Arzt nimmt sich die Zeit z.B. Alternativen auftzuzeigen, die gerade mal nicht im Budget möglich sind. Da fühle ich mich nicht optimal versorgt. Und weil es nicht um ein Auto geht sondern um mein einziges Leben, ist das alles schwieriger.

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Zur Gebrauchsinformation: Die ist sogar kontraproduktiv. Die mangelhafte Compliance der Patienten ist auch auf die fürchterlichen Dinge zurückzuführen, die auf den Beipackzetteln stehen. Wenn da 20 seltene unerwünschten Wirkungen drauf stehen, dann nimmt man das Medikamnet eher nicht oder nicht in der empfohlenen Dosis. Und welcher Patient kann schon zwischen "gelegentlich", "vereinzelt", "selten" und "sehr selten" unterscheiden. Genauso bei den Kontraindikationen: "Ich weiss nicht ob ich das habe, das klingt so seltsam, lieber lass ich das".

Wenn jetzt hier in den Kommentaren der mündige Patient gefordert wird, ist das natürlich nicht gerade repräsentativ. Vielleicht für die Forderung, aber nicht für die Haltung. Gut ausgebildete, motivierte und interessierte Akademiker im mittleren Alter - vielleicht könnte man denen Verantwortung für die Behandlungsentscheidung geben - die, die schon jetzt mit einem Packen Ausdrucke aus dem Internet und Studienabstracts zum Arzt laufen. Aber 95% der Patienten (Patienten!) sind wären heillos überfordert.

Im übrigen diskutieren das meist relativ gesunde Menschen, die noch nie die echte Verzweiflung von Patienten angesichts ihrer ernsten, lebensbedrohenden Erkrankung miterlebt haben.

Behandlungsoptionen werden von den meisten nur als Aufforderung verstanden, sich der Verantwortung für die eigene Gesundheit zu entledigen. Es gibt ja für alle Krankheitsfälle und -stadien Behandlungsmöglichkeiten.

Aber die Akteure im Gesundheitswesen sind nicht unschuldig für diese Situation. Wenn das Vertrauen in den Medizinbetrieb und in die Ärzte schwindet, dann flüchtet man sich in Selbsthilfe.

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Der "mündige Patient" ist der, der nicht blind auf die Empfehlungen eines einzelnen Arztes vertraut, der vielleicht in seiner Praxis versauert und längst nicht mehr auf dem Laufenden ist, sondern erst Entscheidungen trifft, nachdem er zweite Meinungen eingeholt, sich belesen und Behandlungskonzepte verschiedener Anbieter verglichen hat.
So ähnlich, wie mit dem mündigen Bürger der gemeint ist, der sich vor einer Wahl über Parteiprogramme, wirtschaftliche Lage etc. informiert. Wir sprechen ja Bürgern auch nicht das Wahlrecht ab, die nicht Politik studiert haben. Und wir studieren auch nicht alle Elektrotechnik, bevor wir ein bestimmtes elektronisches Gerät kaufen, sondern nutzen Informationsquellen, die unserem Verständnishorizont entsprechen - Testberichte, Fachmagazine etc.
Solche Medien sind für den Bereich Medizin z.Zt. noch dünn gesät, doch wird mit der Transparenzforderung bekanntlich daran gearbeitet, medizinische Leistungen auch für Nichtmediziner vergleichbar zu machen.

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Ja, das trifft es gut.

Meine Mutter hatte ein Jahr lang Sehstörungen auf einem Auge, doch trotz vier Untersuchungen konnte ihr Augenarzt nichts finden. Wir haben sie dann gezwungen den Arzt zu wechseln. Gezwungen, weil es meiner Mutter peinlich war, dass dieser Arzt nichts fand und ihr gesagt hatte, sie würde sich das alles nur einbilden.

Der andere Arzt setzte sofort für den nächsten Tag die OP an. Als er den Untersuchungsraum verließ, blieb die Tür einen Spalt offen und meine Mutter konnte das Telefonat mithören, das er mit dem ersten Arzt führte. Sie war beileibe nicht die erste Patientin, der das widerfahren war und dem Kollegen wurde die Aufgabe seiner Praxis nahegelegt.

Ärzte sind auch nur Menschen, es gibt gute, mittelmäßige und schlechte und sie machen Fehler, die im schlimmsten Fall den Patienten das Leben kosten. Bei gravierenden Problemen würde ich daher IMMER eine zweite Meinung einholen und mich so gut wie möglich (z.B. in Patientenforen) etc. informieren.

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Übrigens praktiziert der Mann immer noch und meine Mutter hat beim Warten in den Fluren der Klinik zwei Patienten kennengelernt, bei denen er ebenfalls Mist gebaut hatte. Ein Patient ist inzwischen erblindet.

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Der unmündige Patient
Mmmmm- h, diese Münze hat zwei Seiten. Das Gegenteil eines mündigen Patienten ist ja wohl ein unmündiger Patient. Einem unmündigen Patienten muss der Arzt nicht sagen, was seine Krankheit ist, welche Behandlung der Arzt als richtig ansieht, welche Alternativen möglich wären, welches seine Gesundungsaussichten sind ....Das alles geht den unmündigen Patienten nichts an. Ihm sagt der Arzt nur: „Nehmen Sie die Tabletten, die ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, drei Wochen lang ein, täglich dreimal nach den Mahlzeiten“, und vielleicht fügt er hinzu „...und dann kommen Sie zur Kontrolle“.
Als ich nach Israel kam, gab es recht viele unmündige Patienten, d.h. nicht wenige Ärzte, die ihre Patienten in diesem Zustand der Unmündigkeit hielten. Inzwischen sind sie ziemlich aus der Mode gekommen, und nur die Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion hat etwas Nachschub ins Land gebracht. Einem Exemplar dieser Sorte „verdanke“ ich, dass ich beinahe auf einem Auge erblindet wäre. Als ich mit Klagen über zunehmende Sehstörungen – vorüber tanzende Mücken, sich verkleinerndes Gesichtsfeld – zu ihr kam, sagte sie, das bedeute nichts, ein Besuch beim Augenarzt sei nicht nötig. Ich unterliess ihn also, es wurde immer schlimmer, und doch wagte ich nicht mehr hinzugehen, denn sie „sass ja am Steuer“. Zuletzt wandte ich mich in meiner Not an einen Optometristen, der wandte fast eine Stunde an die gründliche Überprüfung des erkrankten Auges, dann sagte er: „Ich weiss, was Ihnen fehlt, darf es aber nicht sagen, da ich nicht Arzt bin. Aber fahren Sie sofort, *sofort* zum diensthabenden Krankenhaus. Sie müssen noch heute operiert werden.“ Tat ich und wurde ich, und nach acht Tagen nochmals. Es gelang den Augenärzten im letzten Augenblick, die sich ablösende Netzhaut (schon mehr als 6-12 war weg) wieder an den Augenhintergrund zu „kleben“. Ich sehe, dem Himmel, dem guten Optometristen und den ganz ausgezeichneten Ärzten sei Dank, wieder auf beiden Augen, wenn auch auf dem einen leicht verzerrt. – Später kam ich zur gleichen Herrin über to be or not to be, um eine einfache Blutuntersuchung machen zu lassen. (Ich hatte – unbegründete – Angst, eine bestimmte Krankheit erwischt zu haben). Als sie erwiderte: „Ich werde das nicht bewilligen, das ist nicht nötig“, reichte es mir, und ich verlangte und erhielt von der Kasse Arztwechsel. Jetzt sind wir bei einer Ärztin, die es versteht, den Patienten die jeweilige Situation richtig zu erklären und sie dadurch in vielen Fällen zur „Mitarbeit“ zu motivieren. Sie sieht halt auch einen Menschen vor sich, nicht nur einen „Fall“.

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wir haben alle recht, aber jeder nur bis zu einem gewissen grad.
ich meine, wenn die gesundheitsmaschinerie - von gesetzgeber über zuständige ministerien, ärzte, industrie und besundheitsberufe aller arten - den mündigen patienten fordert, dann soll sie gefälligst auch die entsprechenden möglichkeiten zur information zur verfügung stellen, und zwar so, dass auch nicht-studierte verstehen wovon die rede ist. sonst kommen nämlich die oben beschriebenen schweinereien zustande.

gleichzeitig brauchen wir dann aber auch ärzte, die ein wenig leidenschaft und elan und weiterbildung und auseinandersetzen mit den patienten praktizieren, und zwar aus überzeugung.

und dann brauchen wir noch patienten, die eben die bereits zitierte compliance nicht missen lassen, oder wenigstens den doktor nicht anlügen.

dem arzt zu sagen, das mittel hätte "wunder gewirkt", und eigentlich die komplette packung weggeworfen zu haben und irgendwas runde in rosa, geschnorrt bei der nachbarin, geschluckt zu haben, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern unter umständen sogar lebensgefährlich.

meine mutter - zuckerkrank, vor einer schweren operation stehend - fuhr zur blutabnahme und -kontrolle. und damit der doktor "eine freude hat", nahm sie sicherheitshalber die doppelte menge des zuckersenkenden mittels. der blutbefund entspach der norm, der arzt freute sich dann auch. bei der rückfahrt vom labor kippte die gute frau allerdings, unangegurtet auf dem beifahrersitz sitzend, mitten im stossverkehr bei 60 km/h meinem bruder mit ihren 100kg lebendgewicht bewusstlos auf den schoss. aber sie konnte den beipackzettel lesen, und war eine mündige patientin.

ich habe mich selbst schon oft genug über ärzte, apotheker etc. geärgert, aber auch gefreut. sonst wäre ich mit sicherheit nicht mehr am leben.

mir tun nur immer wieder die patienten leid, denen zwar einerseits die entscheidung selbst überlassen wird, die aber andererseits einfach nicht die möglichkeit haben, sich wirklich zu informieren. und auch die, die einfach abgeschasselt werden, nach dem motto "ich weiss, was ich tue, du musst es nur überleben". so geht das nicht.

solange z.b. patienten nicht begreifen, dass sie "jedem arzt immer alles über alle medikamente, die sie nehmen oder genommen haben, auch über selbstgekaufte" berichten müssen, ist von mündigkeit in meinen augen einfach nicht die rede. die standpunkte "das penicillin habe ich damals nicht vertragen, aber das ist schon so lange her", "den kardiologen geht das doch nichts an, dass ich entwässerungstabletten nehme", "warum soll ich dem hno-arzt sagen, dass ich gerade eine lungenentzündung gehabt habe", oder auch "das ist ja homöopathisch, das brauche ich dem arzt nicht sagen", ebenso wie "der herzinfarkt ist ja schon fünf jahre her" und "allergisch bin ich nur gegen gräser, das ist im winter nicht wichtig", usw., haben wahrscheinlich schon ebensoviele menschen das lebengekostet wie kunstfehler der ärzte.

natürlich brauchen wir dann auch ärzte, die sich mit den patienten wirklich auseinandersetzen. die ihnen zuhorchen, die sich vertrauen schaffen, die hausbesuche machen und die familienumstände kennen. ärzte, die auch einmal zeit haben mit dem patienten zusammen festzustellen, was der denn nun von seiner krankheit wirklich versteht, und von den notwendigen konsequenzen. eine voraussetzung dafür wäre zum beispiel, wenn nur die menschen ärzte würden, bei denen der grund für studium und berufsausübung nicht heisst: "und da verdiene ich dann viel geld".

und sehr hilfreich wäre auch eine gesundheitspolitik, die sich einmal ernsthaft überlegt, wie die prozentuelle zusammensetzung der bevölkerung aussieht in bezug auf alter, bildung, chronische krankheiten, etc.

dass ein 40jähriger akademiker, der über internet und entsprechende nachschlagewerke verfügt, und einmal im jahr eine grippe hat, leicht "mündiger patient" sein kann, ist die eine sache.

mehr sorgen mache ich mir da aber um die "alten und kranken", um die, die eben kein internet und keine nachschlagewerke haben, die eine bibliothek nicht von innen kennen, und
die so einen respekt vor "dem doktor" haben, dass sie nicht zu fragen wagen. denen nutzt auch der beipackzettel nichts, nämlich, denen muss man das einfach und in verständlichen worten erklären, und dann kontrollieren, ob sie auch alles verstanden haben. und das ist gewisslich nicht einfach.

und zu guter letzt - da wir doch in einem grossen, glücklichen europa leben - hätte ich noch einen grossen, und ganz besonderen wunsch: gesetzgeber, gesundheitsminister, ein paar fachgutachter, und ein paar andere "most competent" personen möchten doch, bitte, einmal z.b. die beipackzettel von präparaten die so exotische substanzen wie acetylsalicylsäure, zinkoxyd, carbo animalis, extr. fruct. sennae, und povidone mit, sagen wir einmal, dem türkischen gemüsemann vom naschmarkt diskutieren. ein gutes thema wären mit sicherheit auch künstliche gelenke, intraartikuläre operationen und hauttransplantationen.

oder ist der gemüsemann kein mündiger patient, und hat er kein recht darauf zu verstehen was ihm fehlt und was er jetzt tun muss, damit er wieder gesund wird? werden dem nur einfach die krankenkassenbeiträge abgezogen, und dann gibt ihm der doktor, weil er "eh nur ein türke" ist, einfach was rundes in rosa, nach dem motto "friss und/oder stirb"? ist der kein mensch, der türkische gemüsemann? die polnische putzfrau braucht ja dann wohl ebensowenig zu verstehen was los ist wie der serbische automechaniker? wenn die krank sind, dann schicken wir sie einfach wieder nach warschau, belgrad oder istanbul? oder wie oder was?

wo zieht denn wer hier welche grenze der mündigkeit? bei der muttersprache? bei der religion? beim notendurchschnitt des abschlusszeugnisses? bei der berufsausbildung?

ich will niemandem das mitspracherecht wegnehmen. jeder, der kann, soll mitreden. jeder, der will, soll solange fragen können und - vor allem - antworten bekommen, bis nichts mehr offen ist.

aber a priori vorauszusetzen, dass von staats wegen ein genehmigter beipackzettel und die fähigkeit, buchstaben zu lesen das individuum dazu befähigen, eine richtige entscheidung betreffend gesundheit und behandlungsmöglichkeiten zu treffen, erscheint mir, mit verlaub, doch ein wenig verwegen.

natürlich könnte man auch sagen: da putzen sich wieder einige ab, und wenn was schiefgeht, dann ist der patient schuld und nicht der arzt. weil, der patient hat ja so entschieden, und der ist ja mündig, nicht wahr.

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und ich hab mir die ganze zeit gesagt ich les das nicht das ist zu lang, wenn die frau kelef hier so lang schreibt, dann ist das nicht gut fürs gemüt.
jetzt hab ich dreimalsolang gelesen und jetzt bin ich deprimiert gefrustet.
(ich hätt so viel zu sagen, ich will nich...)

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ja nee, sehr gut gesagt Frau Kelef, und wir kommen (zumindest in D) immer weiter weg vom Idealzustand. Es wird immer teurer und die Leistungen immer schlechter. Man muss sich nicht wundern wenn es irgendwann heißt: "Arme haben 6 Jahre weniger Lebenserwartung". Ich tippe dann auf niedrigeren Bildungsstand und schlechtere Lebensumstände.

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Zwei spontane Gedanken hierzu:

- M.E. gibt es fast kein Thema, bei dem man als Laie nicht sehr schnell (innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen) den Experten überholt, wenn man sich intensiv mit einer sehr klar eingegrenzten Fragestellung beschäftigt, zumindest wenn man über eine halbwegs fundierte akademische Grundbildung verfügt. Und diese Behauptung würde ich für JEDE akademische Wissensdisziplin riskieren, ob es nun um die Statik des Assuan-Damms geht, die Paarungspraktiken des kretischen Blaustachel-Seeigels oder die spätbabylonischen Einflüsse auf die südwestaustralische Landwirtschaft. Und wenn es um meine Gesundheit geht, dann gilt das doch erst recht. Ich kann mich tage-, wochen-, ja monatelang mit genau meinem Krankheitsbild oder meiner Diagnose auseinandersetzen, der Herr Mediziner hat - wenns dumm läuft - vor 15 Jahren vielleicht mal 5 Minuten lang was darüber in einer Vorlesung gehört, geht dann kurz mit irgendeiner blöden Ausrede ins Nebenzimmer und schlägt erstmal den Pschyrembel auf.

- Ein zweiter Aspekt: Wer als Kassenpatient an bestimmten Krankheiten leidet, für die es sehr teure Medikamente gibt, die zumindest ein wenig helfen, der bekommt diese oft nur, wenn er dem Arzt den Eindruck vermittelt, dass er sich genau über die Behandlungsmöglichkeiten im Klaren ist. Stichwort Regress.

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Stichwort: Vertrauen.

Wie schon geschrieben halte ich den "mündigen Patienten" für eine Reaktion auf unser Gesundheitsystem, wo es an allen Ecken und Enden an Vertrauen fehlt. Der Patient vertraut dem Arzt nicht und unterstellt ihm übergeordnete Interessen bei der Behandlung (Regressangst, Industriezuwendungen, usw.), die Politik vetraut den Ärzten nicht und versucht durch immer neue Gesetze/Verordnungen eine Art "Staatsmedizin" zu etablieren, Ärzte misstrauen den Patienten, Niedergelassene misstrauen Kollegen im Krankenhaus, usw, usw. Unsere Selbstverwaltung auf allen Ebenen des Gesundheitswesen ist nur noch bürokratisches Verhinderungsorgan, weil es an Freiräumen fehlt.

Sich selbst zu informieren ist die Reaktion darauf, dass es an Vertrauen fehlt, zu Ärzten, die gezwungen sind, möglichst schnell das Problem aus der Praxis zu befördern und keine Zeit für die "sprechende Medizin" haben. Und die Politik fördert den mündigen Patienten, weil sie davon eine Entlastung des Budgets erwartet und Verantwortung abgeben kann. Wobei das Grenzen hat: Zu Stimmrecht für die Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss hat es nicht gelangt, die Selbsthilfe- und Patientenverbände werden mit Taschengeldern abgespeist und ein wirklich gutes Patienteninformationssystem gibt es auch nicht, nur Stückwerk - würde ja was kosten. Im übrigen wenn die Patienten leicht und locker an nachvollziehbaren Behandlungspfaden sehen könnten, dass die Therapie, die sie bekommen sollen nicht den Leitlinien entspricht, wäre das nicht im Sinne der Gesundheitspolitik, da es Mehrkosten verursachen würde.

Ich könnte mich noch Seitenweise aufregen. Z.B. über das Stichwort "Qualität", das nie fehlt, wenn es um Reformen geht, aber was immer ein Feigenblatt bleibt, weil keiner die Konsequenzen tragen will. Das und vieles mehr stärkt nicht gerade das Vertrauen in das Gesundheitswesen.

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vertrauen und ethik
haben wir doch schon lange abgeschafft. wer braucht das denn, und schon überhaupt in der medizin? strappato, ich sehe immer wieder, wir regen uns über das gleiche auf. das ist noch sehr viel arbeit zu leisten, und zwar auf allen seiten. bis dahin werden aber einfach die patienten auf der strecke bleiben, und von allen seiten angesch*en werden.

@hockeystick. sie haben einen der punkte getroffen. mit einer gewissen akademischen grundausbildung fällt vielen vieles leichter. aber wie hoch, bitte, ist prozentuell die anzahl der akademiker? was ist mit den vielen anderen, man könnte auch sagen, was ist mit der mehrzahl der patienten? denen wird mit dem slogan "mündiger patient" einfach eine teilverantwortung in die schuhe geschoben, ob die es nun verstehen oder nicht. eine wie-viele-klassen-medizin haben wir denn?

will mir wirklich jemand erklären, dass die 70jährige oma nach dem zweiten schlaganfall - nicht entmündigt, ergo mündige patientin - sich über behandlungsalternativen und wechselwirkungen informieren kann? kann sie nicht? dann entscheiden ja doch der doktor und der erbberechtigte enkelsohn, nicht wahr? und letzterer sorgt dann nach genauem studium des beipackzettels dafür, dass sie ihre medikamente dreimal täglich nimmt, und jeweils mit einem glaserl grapefruitsaft hinunterspült, weil vitamine ja so gesund sind.

kann's mir manchmal grausen.

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meine oma ist 92 und der schrecken ihres arztes Teethy die nimmt nur ein, was sie will und wann sie will, ohne jeglichen vernunftgrund. scheint ihr aber nicht schlecht zu tun, ist gut beisammen für ihr alter.

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@strappato&kelef: Absolut einverstanden. Das Problem, dass man kaum jemanden wirkllich vertrauen kann, mit dem man nicht seit Jahren befreundet odet gar verwandt ist, besteht im Gesundheitswesen leider in gleichem Maße wie beim Immobilenkauf, beim Kauf eines Computers oder beim Besuch einer Autowerkstatt. Auch hier läuft der Unwissende (der sich auch nicht aus seinem persönlichen Umfeld beraten lassen kann) Gefahr, über den Tisch gezogen zu werden bzw. auf der Strecke zu bleiben. Schlimm, aber eine Lösung sehe ich nicht. Vielleicht viele Kinder in die Welt setzen, und ihnen die Studiengänge bzw Ausbildungen in den entsprechenden Fachrichtungen finanzieren, oder auch nur seinen Hausarzt an Weihnachten reich beschenken (lezteres hat sich ja wohl schon herumgesprochen).

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Das Problem wird bleiben. Nur sollten wir etwas dafür tun, dass auch die Patienten, die keine medizinische Kapazitäten in der Familie haben oder nicht in der Lage sind, sich im Internet Therapieleitlinien und aktuelle Studien zusammen zu suchen, eine Chance auf eine angemessene und qualitativ hochwertige Therapie haben - oder wenigstens den Glauben, dass ihnen dies zuteil wird.

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