Mittwoch, 11. Jänner 2006
Bericht eines Tenors aus der Provinz
(aus der beliebten serie "kunscht und künschtler")

Der alte - natürlich russische - Tenor erzählt:

Natürlich fällt einem der Abschied vom Theater schwer! Aber die Wehwehchen lassen einen leider nicht mehr los. Aber nicht doch, mit meiner Stimme ist alles bestens: das hohe C schaffe ich noch spielend… Aber seit einiger Zeit leide ich ziemlich stark an..., Pardon, an Blähungen. Was ich dagegen mache? Ich nehme schon was! Ich verschlinge zum Beispiel haufenweise Aktivkohle. Bin schon leicht schwarz im Gesicht. Und, wissen Sie, es hilft!

Aber einmal vor einer Aufführung habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass ich keine Tabletten mehr hatte. Ich kapiere nicht, wann habe ich sie alle verbrauchen können!? Ich sang Kavaradossi in Tosca. Eine heikle Sache – ein Haufen Fortissimos und jede Menge Zeug, wo man tief Luft holen und anstrengende Pausen halten muss.

Noch fünf Minuten bis zum dritten Akt und bei mir im Magen: die Oktoberrevolution. Ein Druck wie in einem Ballon mit Propangas. Ich begebe mich in die Kulissen, weit weg von den anderen, gehe hin und her und versuche den Druck zu reduzieren. Es hilft aber nichts - der Prozess ist in Steigerung begriffen und ich bin schon kurz vorm Platzen.

Das Präludium zum dritten Akt ertönt. Laut Handlung werde ich von den Wachen auf die Bühne gebracht und schliesslich erschossen. Und ich lasse mich hinschleppen mit einem einzigen Gedanken im Kopf - nur keine Blamage! Der Text war nicht das Problem - der ist schon längst im Unterbewusstsein gespeichert. Nur, um Gottes Willen, ja keinen Rülpser oder sonst was von dieser Sorte! An das Ärgste wollte ich nicht einmal denken. Ich beginne zu singen und versuche mich auf die Musik zu konzentrieren. Aber im Kopf nur ein Gedanke - der herannahende Höhepunkt der Arie, der des ganzen Lungenvolumens bedarf. Und da ist er, der aufregende Moment: ich mache eine Pause, hole tief Luft und beginne mit der weltbekannten Partie über "die letzte Stund und den Tod".

Aber es gibt anscheinend keine Wunder mehr auf der Welt, und nach dem dritten Wort ... musste ich pupsen! Was? Sie meinen "pupsen" ist zu fein ausgedrückt? Da bin ich mir nicht sicher, ich weiss nicht … Aber im Prinzip war da eine gewisse Logik: es ist Mario halt vor lauter Angst passiert, in der Vorahnung des Unvermeidbaren. Aber mit diesem Gedanken suchte ich wohl eher eine Rechtfertigung für mich.

Die Klänge aus dem Orchestergraben wurden immer verzerrter. Der Dirigent begann zu zappeln, und sein Taktstock verwirrte die Musiker - einige Geigen und vereinzelte Bläser fielen ganz aus. Ich schaute in den Zuschauerraum - die Damen in den ersten Reichen holten ihre Fächer aus den Täschchen und fächelten sich die Luft zu, als wäre ihnen zu heiss. Die Herren zogen die Lippen zu einem Röhrchen zusammen - ein plumper Versuch die Schadenfreude zu vertuschen - oder griffen zu ihren Taschentüchern und begannen ihre Brillen zu putzen. Anscheinend wollten sie sich den Genuss der schärferen Sicht nicht entgehen lassen, wenn dieser Scheisser am Ende der Szene abgeknallt wird.

In die Oper kommen ja, Gott sei Dank, zurückhaltende, takt- und verständnisvolle Menschen – stürmische Emotionen blieben aus. Der letzte tragische Satz meiner Arie war zu Ende. Gleich kommt Tosca und wird versuchen mir weiszumachen: "Mach dich halt nicht an, Kavaradossi. Ich habe alles arrangiert. Die werden mit Platzpatronen schiessen, du spielst ein bisschen Leiche auf den Brettern und dann gehen wir gemeinsam nach Hause!".

Aber ich habe andere Sorgen! In meinem Zustand könnte ich selber einen Haufen Wachleute "abknallen", die würden sich wundern! Ich muss mich aber zusammenreissen, damit ich mich vor Tosca nicht blamieren muss! Ach, Seppl, Seppl ((Giuseppe) Verdi, Anm.)! Wieso ist dein dritter Akt so unendlich lange geraten?

Alles spielte sich fürchterlich langsam ab, wie in einem Traum. Ich weiss nicht mehr wie ich die Passage mit den "zarten Händen" schafte. Ich kann mich nur erinnern, dass ich den Leidenden wie ein Gott spielte. Mein Spiel und meine Stimme liessen die Zuschauer in ihrer eigenen Rotze schwimmen (forget Luciano und Placido), ich wartete aber ungeduldig auf die erlösende Salve. Nicht doch! Den Gedanken, mich in den Knall "entladen" zu können, erstickte ich im Keime - das Risiko, aus dem Unisono herauszufallen, war mir einfach zu gross. Ich wartete nur mehr auf den Vorhang. Endlich kam der Schuss, und ich sank zu Boden! Gleich wird mich Tosca berühren, wird kapieren, dass man sie mit den Platzpatronen regelrecht reingelegt hatte und ich "weg" bin, und bringt ihr nicht weniger berühmtes «Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!». Ich liege "mausetot", geniesse die Pause vor dem unvermeidlichen Applaus, entspanne mich und, bevor Tosca zu heulen beginnt ...

passiert's!!! Das war eindeutig zu laut. Das, was mein entfesselter Magen in dieser Totenstille produzierte, war sicher auf der Strasse zu hören! Ich versichere Ihnen, keine Tosca in keinem Theater der Welt reagierte auf den Tod ihres Geliebten dermassen expressiv! Dieses unverfälschte Entsetzen und diese echte Verzweiflung, die man in ihren Augen lesen konnte! Der Applaus glich einer Explosion! Die «da capos» und «bravos» bezog ich allerdings nicht auf meine Leistung – eine Wiederholung wäre sogar mit den grössten Wünschen des dankbaren Publikums nicht möglich. Und als der Vorhang fiel, begab ich mich schleunigst in die Garderobe, ohne das um die Bühne versammelte Volk anzusehen.

Trotz des grandiosen Erfolgs verlor ich meinen Job. Man hat mich am Theater einfach nicht mehr beschäftigt. Der künstlerische Leiter sagte sogar meinem Agent ins Gesicht: "Warum soll ich diesen alten Furzarsch engagieren, wo doch bei uns die Luftung nicht mehr richtig funktioniert?".

Gestern traf ich einen bekannten Musiker, der gerade in einem Streichquartett spielte. Klassische Zusammensetzung - ein Esel, ein Hahn... Pardon, eine Geige, ein Alt, ein Chello und ein Kontrabass. Sie fahren in jedes Kaff und "bringen Kultur unter die Massen". Vor kurzem kamen sie aus einem dieser Nester zurück, wo sie sich "dumm und dämlich verdient" haben sollen! Sie würden mich als Solosänger für Kammerstücke nehmen. Richtige Kammermusik, das, was normalerweise Philharmoniker spielen.

Ich schilderte ihm offen meine Probleme. Er überlegte kurz und sagte:

"Scheiss dich nicht an, Maestro! Wenn du den Druck verspürst, mach mir nur ein Zeichen mit der Augenbraue - ich gebe dir Deckung mit dem Kontrabass".

Vielleicht sage ich zu.

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