Samstag, 24. Oktober 2015
flüchtlingsfindelkind
frau pixy ist ein guter hund, und wenn sie meint, dass irgendwas nicht so ist wie es sein soll, dann hat sie ganz oft recht.

so zum beispiel, wenn sie bei der nachtrunde jemanden im dunkeln sitzen sieht. besonders, wenn diese person auf dem boden ums eck von einer auffangeinrichtung für unbegleitete kinder und jugendliche ist, zum beispiel. und ganz besonders dann, wenn sie weiss, dass sowohl sie als auch ich dort vor ein paar monaten von einer ratte attackiert und gebissen worden sind, weil ein paar irre dort heimlich die vogerln füttern.

gestern abend also konnte sie nicht umhin mich auf eine schmächtige person aufmerksam zu machen: schau, frauli, hüpf-spring, schau, hingehen, was tun, jetzt, gleich!

ihr wunsch war frau kelef befehl. ein vielleicht 14- oder 15jähriger, leicht frierend in eine decke gewickelt, mit einem kleinen rucksack im arm an den er sich klammerte. nein, deutsch konnte er nicht, schaut uns an, verzieht keine miene, frau pixy stösst ihn sanft, dann versucht frau kelef es auf englisch. no, you cannot help me, thank you asking, sagt er, und streichelt vorsichtig und sehr zart die aufgeregte kleine frau pixy.

irgendwie sollte er dann doch wohl besser vom feuchtkalten boden aufstehen, es nieselt, frau kelef deutet ihm, er soll mitkommen, wieder in das haus hinein. no, not good for me.

an einer eiskalten hand nehmen und führen ging dann doch, tür auf, hinein, er deutet in den ersten stock, schüttelt aber den kopf: not good for me.

müssen wir aber doch versuchen, oben sind licht und wärme und menschen und vermutlich auch betten oder sowas und was zum essen.

frau pixy kriegt "voraus" bedeutet, und wie sie so über die stiege hoppelt muss er dann doch ein wenig lächeln, ihre ohrspitzen hüpfen ja immer noch mehr als sie selber, das schaut einfach lustig aus.

an der tür empfangen uns zwei offensichtliche betreuer mit einem "gott sei dank" und lotsen uns herein, ein paar kinder und jugendliche kommen neugierig um die ecken des langen vorraumes aus verschiedenen zimmern, und gleich will unser findelkind wieder hinaus, wir hindern ihn mit sanfter gewalt daran.

leider kein dolmetscher vorhanden, erst am nächsten tag, er komme, sagt er mir, aus afghanistan, nur sein kleiner bruder sei mit ihm hier, der kommt auch und kümmert sich um ihn und redet ihm ganz lieb zu, schön zu sehen, auch wenn man nix versteht.

in der zwischenzeit hat sich die nachricht von frau pixys anwesenheit wie ein lauffeuer verbreitet, und schon sehen wir uns in einem pulk von ganz vielen meist kleinen personen, meist schon bettfein in pyjamas, teils mit noch nassen haaren, einige haben offenbar sogar das zähneputzen unterbrochen, sie halten noch die zahnbürsten in der hand.

nach anfänglichen schwierigkeiten, allen klarzumachen dass frau pixy ein gar freundliches tier ist, nehme ich ihr das geschirr ab und lasse sie frei, sie bleibt sowieso in sichtweite.

und dann kannstedirnichtvorstellen was für ein babylonisches stimmengewirr da plötzlich herrschte, wie viel lachen und fragen und erklären und übersetzen und hund knuddeln und streicheln und zeigen, auch ein paar der kinder haben böse verletzungen und narben. ein älterer fragt mich, wieso ich so einen hund habe, was genau passiert ist, er kann ganz gut englisch und übersetzt den anderen, die dann teilweise für wieder andere in wieder andere sprachen übersetzen, vielleicht so 25 wuselten da um uns herum. und je klarer allen wurde, dass es sich beim steifen ellbogen des hundes praktisch um eine "kriegsverletzung" und keinen unfall handelt, desto mehr wird frau pixy gestreichelt und geknuddelt. und sie geniesst diese aufmerksamkeit sichtlich. zwei buben zeigen mir auch ihre narben, ja, da war krieg wo sie herkommen, übersetzt ein älterer ins englische, sie sind nicht verwandt, die zwei, aber mit irgendwelchen gemeinsamen verwandten gekommen, zumindest bis hierher, wo diese verwandten jetzt sind? achselzucken, und ein zucken um die mundwinkel ...

frau kelef also erklärt, dass sie frau pixy schon so übernommen hat, mit dem steifen ellbogen. warum ausgerechnet einen behinderten hund, waren da keine gesunden? doch, aber frau pixy ist nett, deshalb. und innerlich ist sie sowieso makellos, und das ist doch das wichtigste. ein paar verstehen das nicht. weil sie nett ist? nur, weil sie nett ist? ja, und weil sie ein guter hund ist.

die betreuer lachen mit, unser findelkind entspannt sich langsam, er lehnt aber immer noch vorsichtig an der wand neben dem eingang, sein kleiner bruder redet beruhigend auf ihn ein, und frau kelef beschliesst, solange bis er sich niedergesetzt hat, wo auch immer, bleibt sie da.

frau pixy derweilen spielt völkerverständigung und versteht "sitz" und "gib die kranke hand" in der zwischenzeit auch auf afghanisch, farsi und noch ein paar sprachen. merke auch: man kann nie genug karamelkekse in der tasche mit sich tragen. die haben eindeutig völkerverbindende wirkung.

die betreuer erzählen mir, dass jeden tag wer anderer hier ist als betreuung, sie wissen meist nicht wie lange die kinder und jugendlichen auf der "station" bleiben, die ist offen und jeder kann kommen und gehen wie er will, manche kommen freiwillig irgendwoher, manche werden von der polizei aufgegriffen und hier abgeliefert bis sie in irgendeiner jugendinstitution untergebracht oder von den erziehungsberechtigten abgeholt werden.

dolmetscher gibt es nur stundenweise, wenn man denn einen findet der zeit hat, und natürlich nicht für den ganzen tag und für alle sprachen. einige der betreuer haben daher die wichtigsten vokabel und sätze in ein paar sprachen gelernt, eigeninitiative, nein, staatliche unterstützung gibt es da nicht, aber es nutzt ja nix, irgendwie muss man doch kommunizieren, nur füttern und ein dach über dem kopf ist zu wenig. anstrengend ist das, und manchmal fast nicht auszuhalten weil man nicht genug tun kann für die kinder, man fängt sie auf für ein paar stunden oder tage, und dann muss man sie wieder gehen lassen und verliert sie aus den augen, notwendigerweise, das zehrt an der substanz der betreuenden, manche halten das nur kurze zeit aus, manche halt länger, aber es kostet so unglaublich viel kraft einerseits und zurückhaltung andererseits. und manchmal versteht die eigene familie nicht, in was für einem zustand man da nach hause kommt, wenn man stundenlang hilflos neben z.b. so einem findelkind steht, und nicht einmal fragen kann was genau los ist, und wie man ihm helfen kann.

frau kelef kriegt dann auch noch einen kaffee, einen ordentlichen starken schwarzen, wir rauchen eine zigarette, das findelkind hat sich endlich entspannt und auf den boden gesetzt, immer noch in türnähe, wenn er wieder davonläuft, dann können und dürfen sie ihn nicht aufhalten, sagen die betreuer.

will you stay here, do you promise? okay, sagt er.
good luck, sag ich. und dann streichelt er frau pixy noch einmal und wir gehen durch das finstere stiegenhaus hinaus in den regen und die kühle nacht.

kriegt man lange nicht aus dem kopf, sowas.

NACHTRAG: er ist auf der station geblieben. hat sich geduscht und in das bett neben seinem bruder gelegt und sich ausgeschlafen. am vormittag war auch ein passender dolmetscher mit genügend zeit da. ich weiss jetzt nicht nur, wie das findelkind heisst, sondern kann seinen namen auch aussprechen. was los war? nun, er kann mit der situation nicht umgehen, wen wundert es. die eltern sind tot, onkel und tante haben sie mitgenommen und irgendwie weiss jetzt niemand, wo die sind, weil sie in verschiedene unterbringungen gesteckt wurden. es wuchs ihm über den kopf: dass die verwandten weg sind, er sich nicht um seinen kleinen bruder kümmern kann und darf wie er will/soll, dass man ihm ganz andere dinge erzählt hat vom gelobten land, dass hier alles anders ist als er es kennt, und dass er immer noch von dem was, er erlebt hat, träumt und dann ganz viel angst hat. nachmittags beim fussballspielen ist ihm das alles irgendwie aufgestossen, und dann wollte er nicht mehr, oder wusste nicht was er wollte oder wollen sollte. er ist 14, sein kleiner bruder 8. wo man die zwei hingebracht hat konnten mir die neuen betreuer leider nicht sagen.

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