Montag, 24. Februar 2014
Der mündige Patient, wer ist das überhaupt?
Der „mündige Patient“ muss erst definiert werden – der Ausdruck geistert schon seit den 80er-Jahren herum, aber noch nie hat mir jemand auch nur annähernd erklären können um welche Personengruppe es sich dabei genau handelt.

Ein Vierteljahrhundert als Schlagwort also – und mit welchem Ergebnis?

Solange die Patienten nicht genau verstehen, wie ihr Körper funktioniert, solange werden auch elektronische Behelfe nichts an der Situation ändern: wir brauchen mehr gut geschulte Hausärzte, die ihre Patienten kennen, und sich Zeit nehmen wollen und können. Wir brauchen z.B. Röntgeninstitute und Labore, bei denen man nicht bei akuten Beschwerden zwei Wochen im Voraus einen Termin ausmachen muss, und von denen man den Befund dann weitere zwei Tage später abholen kann. Der Patient – auch wenn er mit Werten im Internet vergleicht – hat keine Erfahrung darin zu erkennen was der Befund aussagt, er kann höchstens mit seinem „alten“ Befund vergleichen, sofern er ihn (noch) hat: und was soll er dann damit anfangen? Wer weiß schon, welche Aufgaben eine Gallenblase hat, und wie sie mit der Leber zusammenhängt, und was eine Verstopfung eines Gallenganges bedeutet? Natürlich immer in Hinsicht auf den einzelnen Patienten, der ja noch ein paar andere Organe mehr hat. Wenn bei der Maltschi-Tant‘ die Galle herausmusste, heißt das nicht automatisch dass eine OP für den Onkel Ferdinand notwendig ist.

Es ist heute leicht, sich zu informieren im Internet – wenn man eines hat und damit umgehen kann. Automatisch sind also viele Menschen schon einmal ausgeschlossen und müssen sich auf das Hörensagen verlassen.

Die Probleme, die es – auf Patienten-Informationsseiten, Foren für z.B. Bluthochdruck, Diabetes, etc. – immer wieder gibt sind: mangelndes Verständnis seitens der Patienten. Wer nicht versteht, wie ein Körper funktioniert, der kann noch nicht einmal die richtige Frage stellen. Und wenn man nicht die richtige Frage stellt, oder falsch formuliert, dann bekommt man nicht die benötigte Antwort. Und die Menschen lesen auch bei elektronischen Informationen wie üblich: Überschrift, Text links oben und Text rechts unten. Schon eine entsprechende Aufteilung im Text kann also dazu führen, dass der Normalverbraucher zu einem falschen Schluss kommt – und das passiert auch regelmäßig. Diese Probleme sind durchaus bekannt, und es wird einerseits an Verbesserungen gearbeitet, andererseits schamlos ausgenutzt.

Dazu kommt dass alle diese Informationsseiten zwar „inhaltlich wissenschaftlich erstellt“ werden von den Herstellern selbst oder von Interessensgemeinschaften, letztere aber wiederum ohne das Sponsoring von Firmen nicht existieren können. Den Text für die Informationsseite schreibt ein Marketingmanager, der eigentlich Ernährungswissenschaften, Wirtschaft oder sonst was studiert hat. Dann sagt ein Mediziner, was noch hinein muss in den Text. Dann kommen die bösen Rechtsgelehrten der Firma, die sagen: und da hätten wir noch ein paar Gesetze. Dann wird die Gestaltung der „öffentlichen Präsentation“ an eine Werbefirma weitergegeben, die wiederum Grafiker, Texter, Filmproduzenten beauftragt, die sich alle künstlerisch einbringen. Ich beobachte seit langem ein paar von diesen Ausgeburten der Branche: für den Patienten sind die so sinnvoll wie Titten auf einem Stier für die Aufzucht von Hühnern. Und besonders, wenn dann Patienten in Foren dazu diskutieren und ihre Erfahrungen austauschen können.

Schaut man sich in Foren zum Thema Pflichtimpfungen für Kinder um, wird einem ganz schwummrig vor lauter Fachleuten und solchen, die es gerne sein möchten. Und dazwischen sind dann, je nach von den Herstellern beauftragten Werbeagenturen, ein paar Statements von Marketingleuten, die aber für den Leser nicht als solche erkenntlich sind. Sich daraus eine objektive Meinung zu bilden ist schlicht unmöglich. Und die Leute, die dort nachschauen, wollen im Grunde auch nur eine Bestätigung ihrer vorgefassten Meinung.

Der durchschnittliche Patient liest schon die „Beipackzettel“ entweder gar nicht, weil wenn er sie lesen täte dann täte er das Medikament nicht nehmen weil er alles das bekommen könnte was da drinnen steht; oder er liest jedes Wort und gibt die muttersprachliche Übersetzung in die Google-Suche ein, und versteht dann irgendwas. Beispiel gefällig? Einfach einmal „Wassertabletten“ in die Google-Suche eingeben und dann darüber nachdenken, was der Durchschnittspatient von den Ergebnissen genau liest – man kann es sich ausrechnen. Und dann sucht sich die Abnehmwillige natürlich genau die Antworten aus, die sie haben will, denn „Diuretikum“ in der Wikipedia bringt sie mit Wassertabletten erst gar nicht in Zusammenhang. Was macht so ein Patient dann mit dem „Wissen und den Informationen“ aus dem Internet?

Die Industrie ist lt. Arzneimittelgesetz verpflichtet, Beipackzettel auf Verständlichkeit probelesen zu lassen: siehe http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010441 : aus §16
Pflichten im Zusammenhang mit der Gebrauchsinformation
16c. (1) Der Zulassungsinhaber oder der Inhaber einer Registrierung muss dafür sorgen, dass die Gebrauchsinformation auf Ersuchen von Patientenorganisationen in Formaten verfügbar ist, die für blinde und sehbehinderte Personen geeignet sind.
(2) Die Gebrauchsinformation hat die Ergebnisse der Zusammenarbeit mit Patienten-Zielgruppen widerzuspiegeln. Der Bundesminister für Gesundheit und Frauen kann durch Verordnung nähere Regelungen zur Sicherung der Lesbarkeit, Klarheit und Benutzerfreundlichkeit der Gebrauchsinformation erlassen.
Das wird so gehandhabt, dass das „Readability Testing“ von einem Land gemacht wird, die Ergebnisse werden dann von anderen Ländern übernommen, und die Texte übersetzt. Nicht genug damit, werden diese Tests fast immer an Agenturen oder Firmen delegiert, die ein entsprechendes Klientel schon vorab zusammengestellt haben und immer wieder einsetzen. Die Ergebnisse spiegeln also keineswegs wider, was die Patienten (des jeweiligen Landes) wirklich verstehen. Sinnvollerweise sollte – und ich habe das mehrfach auch sehr laut in mehreren Workshops etc. zur Sprache gebracht – eine derartige Untersuchung mit Menschen von der Straße gemacht werden, und zwar ohne die Möglichkeit einer Vorbereitung. Wir haben damals ziemlich heftig diskutiert, das Ergebnis war: die Leute, die derartige Untersuchungen machen, kennen solche Menschen nicht. Meine Feststellung, jeder hätte doch einen Briefträger, einen Automechaniker, etc., wurde kommentiert mit: ja, aber die können wir doch nicht fragen, mit denen reden wir doch nicht …

Das gleiche gilt sinngemäß meiner Meinung nach auch für alle elektronischen Gesundheitsmittel/Apps: erstellt werden diese mit Sicherheit nicht von Betroffenen für Betroffene, und schon gar nicht aus reiner Nächstenliebe oder Besorgtheit um die Allgemeinheit. Es geht dabei ausschließlich darum, die Prozente am Kuchen zu verteilen.

Wie ich doch immer sagte: der beste Beipackzettel ist „eins am Tag, wenn’s dich juckt geh zum Bader“, viele Informationen sind einfach gefährlich für die Patienten, weil die Compliance negativ beeinflusst wird. Das Ergebnis sind dann Leute wie meine Mutter (und viele andere, die ich kenne), die verschriebene Medikamente zwar aus der Apotheke holen, sie dann aber nicht nehmen weil ihnen irgendwer gesagt hat dass … Dem Arzt wird aber über gute Wirksamkeit berichtet, damit er „sich nicht kränkt“. Oder die Dosierung wird verändert, damit „der Doktor eine Freude hat“ über die gute Wirksamkeit. Etc.. Die Antibiotika-Geschichten kennen wir ja eh alle. Sind das die Patienten, die man als mündig bezeichnen kann?

Um mündige Patienten zu bekommen müsste schon im Kindergarten, spätestens aber in der Volksschule, ernsthaft damit begonnen werden, den Kindern die Sinnhaftigkeit von Gesundheitsvorsorge, Selbstbeobachtung (z.B. in Bezug auf Stuhlgang, Trinkverhalten, Mundgeruch, Juckreiz, etc.), biochemische Vorgänge, usw. entsprechend eindrücklich näher zu bringen. Aufbau und Funktion des Körpers müssten viel intensiver erklärt werden, auch Hormone, Medikamente, Krankheiten sollte man diskutieren, und ja: auch und gerade mit Kindern. Wenn die Grundlage fehlt, wie sollen die Menschen sich weiter informieren, wie verstehen was notwendig ist und was nicht?

Jetzt hab ich wieder Kopfweh. Mal sehen, was das Internetz dazu sagt. Migräne, Wetterfühligkeit, Halswirbelsäule, Nerven, Medikamentennebenwirkung, ha!: Kopftumor, ich wusste es. Ich geh jetzt sterben … oder nö, doch bloß zu wenig Flüssigkeit. Vielleicht aber auch weil ich seit Tagen die Lesebrille nicht finde. Oder weil mich die Sonne nachmittags geblendet hat. Besser auch, ich übersiedle, die Leut‘ über mir sind immer so laut dass die Katzen vor Schreck vom Schrank fallen. Es könnte aber auch beginnende Demenz sein, wenn ich deswegen nämlich meine Pulverln nicht oder doppelt genommen habe, was könnten die Folgen davon denn wiederum sein …

... link (16 Kommentare)   ... comment