Samstag, 21. Dezember 2013
ganz und gar keine Weihnachtsgeschichte VI/VI
Die Schwester schluchzte und bekam vor lauter Reden und Weinen keine Luft, sie erzählte mir im Prinzip das, was ich schon wusste – ausgenommen natürlich die merkwürdigen Anschuldigungen gegen mich resp. uns. Immerhin aber: alle hatten ihren Bruder betrogen, und ihm für die ganzen wertvollen Dinge nix gegeben, alle hätten sich bereichert, und so weiter und so fort. Ausgerechnet ich, merkte ich vorsichtig an, sicher nicht, ich hab weder wie die T. gestorben ist noch wie der S. die Wohnung aufgelöst hat auch nur ein einziges Ding auch nur als Andenken haben wollen. Ja, meinte sie, das könnte ich ja leicht so sagen, das sei sicher ganz anders, aber auf jeden Fall verstehe sie das alles nicht, der S. sei doch ganz normal gewesen, als sie ihn zu der Pilzsauce mit Knödel eingeladen habe, er habe sich gefreut, und nur von Montag auf Dienstag verschoben, eben weil er zur Hausverwaltung wollte. Weswegen, wusste sie auch nicht.

Ob ich dort anrufen solle? Nein, das mache sie schon selber – war mir auch lieber, irgendwie, denn die Sache mit den beiden vollgefüllten Räumen dort war mir doch ein wenig unheimlich, und man sticht ja nicht gerne in Wespennester. Ich sagte ihr also, sie solle, wenn sie bei der Hausverwaltung anrufen sollte, daran denken dass da noch Sachen – ja, sagte sie, sie werde einen Kasten kaufen und alles, was dort und in der Wohnung sei, hineintun, das habe ihr Bruder aufheben wollen, das werde sie alles in Ehren halten. Ob ich was tun könnte? Nein, meinte sie, sie habe mir das nur sagen wollen weil sie wusste, dass die Katzen und die Vögel jetzt allein seien. Ich bedankte mich also, bedauerte und sagte, was man so sagt und was sowieso völlig sinnlos ist in so einer Situation.

Den Rest der Tage in Berlin verbrachten meine liebe Tochter und ich irgendwie ziemlich ferngesteuert. Frau Creezy kümmerte sich wohl sehr liebevoll um uns, aber was kann man in so einer Situation schon sagen oder tun? Wir trafen auch Frau Indica, und das war ganz formidabel, und wir machten auch ein wenig Stadtbesichtigung und so, aber je nun.

Samstags fuhren wir zurück, am Montag rief ich die Schwester an, und die blaffte mich an wie eine Irre, wie die Aasgeier kämen die Leute, und was ich denn wollte von ihr, das sei doch alles … Sie, sagte ich, ich will nix weiter als meine Wohnungsschlüssel, bitteschön, und das ist ja wohl verständlich. Wieso ich die von ihr wolle, die seien bei der Polizei. Sei mir auch recht, bei welcher Polizei bitte. Wisse sie jetzt auch nicht, und sie könne jetzt auch ganz schlecht reden, ich solle in ein paar Minuten wieder anrufen. Gesagt, getan. Wie die Aasgeier, und überhaupt, das sei doch, was ich denn von ihr wolle: na, immer noch meine Wohnungsschlüssel. Ja, die seien aber bei der Notarin. Auch gut, bei welcher bitte. Ich solle in ein paar Minuten noch einmal anrufen, da müsse sie erst nachschauen. Nach ein paar Minuten waren die Wohnungsschlüssel dann doch bei ihr, ein Nummernvergleich bestätigte das. Ich würde die dann bitte gerne wiederhaben. Irgendwann nächste Woche, meinte die G., nein, jetzt sozusagen, meinte ich. Wir konnten uns dann darauf einigen, dass ich eine Stunde später zu ihr kommen könne. Machte ich auch – zehn Minuten zu Fuß. Und dann läute ich, und sie macht die Türe auf, und sieht aus wie die junge T., nur mit weißen Haaren. Ich dachte, mich trifft der Schlag. Die Größe, die Frisur, die Backenknochen, die dunklen Augen, die braungebrannte Haut (nur wäre die T. nie in ein Solarium gegangen, die legte sich in die Sonne oder sie war eben blass).

Wie die Aasgeier sind alle, alle kommen und wollen was haben, was ich denn noch alles wolle, schrie mich die G., mit den Sauerstoffschläuchen in der Nase, an. Meine Wohnungsschlüssel, hier bitte: meine Zweitexemplare zum Nummernvergleich, danke vielmals. Unterschreiben tu ich auch gerne: habe meine Wohnungsschlüssel wieder erhalten. Sie wolle aber noch mit mir reden, was denn nun geschehen sei, sie verstehe das alles nicht, der S. sei doch so normal gewesen und habe sich so auf ihre Pilzsauce mit Knödeln gefreut, gesundheitlich sei es ihm auch wieder gut gegangen, das starke Cortison habe ihm genauso gut geholfen wir ihr auch immer, und dann das. Ja, ich wüsste auch nicht mehr, sagte ich. Jedenfalls, das sei alles nicht mit rechten Dingen zugegangen, der S. hätte viel mehr bekommen müssen, was für Leute ich denn da … Sie, sagte ich, die Leute mit denen ich beim S. gewesen bin haben ihm zu wenig geboten für die Dinge, von denen er sich trennen wollte, ein paar Dinge hätte man wohl schätzen lassen können, aber die wollte er behalten. Ob ich eigentlich wüsste, was die Bücher alle gekostet hätten, und die Möbel, und das Geschirr, das hätten sicher alle gerne. Sie, sagte ich, ich HAB Geschirr, zum Kochen, zum Essen, und Besteck und Gläser, was soll denn das? Ja, aber das war alles so wertvoll, und jetzt … wie die Aasgeier, jeder will was. Ich war ein wenig verstört. Was war da los? Sie sei so krank, ich sehe doch, da hinge sie am Sauerstoff, und kriege trotzdem keine Luft. Na ja, das ist schlimm, das ist schon klar, aber … Und wo überhaupt sei denn das ganze Gewand von der T. hingekommen, da sei doch so viel dagewesen, habe der S. gesagt, und Koffer, und überhaupt so viele Sachen. Die T., sagte ich, ist seit bald fünf Jahren tot, und was bitte hätte ich wohl mit Kleidungsstücken der T. machen sollen, die war so groß wie sie, also rund 15 cm kleiner als ich! Eben, meinte die G.. Ich war noch verstörter, aber immerhin wusste ich, dass die Schwester der T. aus Kärnten, also die, von der damals auch viele Kinderkleider gekommen waren, die genannten Koffer mit Dingen, die sie haben wollte, mitgenommen hatte – zumindest hatte mir der S. das so erzählt. Ob ich von der in Kärnten eine Adresse hätte – nein, hatte ich nicht. Wie die Aasgeier, und was ich denn … Sie, sagte ich, noch einmal: ich wollte nix, ich will nix, ich bin wegen meiner Wohnungsschlüssel gekommen, wenn ich ihnen helfen kann sagen sie mir das, sonst geh ich jetzt. Und das wolle sie mir nur gesagt haben, sie werde alles von ihrem Bruder aufheben, schrie sie, alles, nix werde sie hergeben. Konnte ich mir dann doch nicht verkneifen sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie gerade über in Summe 450 wohlgefüllte Bananenkartons entschied; das, meinte sie, komme nur daher dass ich ihr das nicht vergönne.

Eigentlich sei mir das alles egal, sie solle nur vorsichtig sein denn da seien ja auch noch die Kreditschulden, und wenn sie das eine annähme dann hätte sie möglicherweise – da würde ich mich nicht auskennen, meinte sie, so ein Kredit sei ja versichert, das habe damit nichts zu tun. Na denn. Ich verabschiedete mich also.

Und dann hatte ich da ja eigentlich die Bestätigung für das, was mir so latent im Hinterkopf geschlummert hatte, und was wir schon in Berlin geargwöhnt hatten, und Frau Creezy aus dem Stegreif diagnostiziert hatte als wir ihr von dem merkwürdigen Verhalten des S. erzählt hatten: ein Psychose-Schub. Im vorliegenden Fall – meinen unmaßgeblichen medizinischen Kenntnissen zufolge – auf die hohen Cortison-Dosen zurückzuführen. Denn dass psychische Erkrankungen und Cortison nicht zusammenpassen, ebenso wie Cortison und starke psychische Belastungen, das ist ja nun wirklich sattsam bekannt.

Also ruf ich, brav wie ich bin und das gelernt hab, den behandelnden Lungenfacharzt an und erzähle ihm kurz dass sich sein Patient S. X. in der Woche davor erhängt habe. Warum ich ihm das erzähle, fragt mich der allen Ernstes. Also noch mal von vorne: Patient sowieso, geboren am sowieso, jaja, sagt der Herr Dr., der hat Cortison schon ziemlich hochdosiert bekommen. Und hat er ihnen erzählt, wieso es ihm so schlecht geht? Ja, meint der Herr Dr., Frau gestorben, und jetzt die Sache mit der Wohnung. Und was wollen sie jetzt von mir? Soll ich ihnen eine Adresse geben von Leuten mit denen sie sprechen können? Nein, eigentlich wollte ich, dass der Herr Dr. eine Nebenwirkungsmeldung macht. Wozu, schwere psychotische Schübe bei hohen Cortisondosen seien doch ohnedies bekannt. SIE! Der Mann hat sich umgebracht, Psychose und Suizid innerhalb von nicht einmal 36 Stunden! Und im Übrigen sei die Schwester des betreffenden Patienten, die Frau G., auch bei ihm in Behandlung, das Asthma sei ja genetisch bedingt, und sie bekomme ebenfalls hochdosiertes Cortison, sei zu Recht traumatisiert und reagiere doch höchst aggressiv und unlogisch, vielleicht sollte man auf die Dame ein Auge haben. Und da sagt der Dr. drauf: Na gut, wenn es sie beruhigt, dann mache ich mir eine Aktennotiz. Nein, sag ich, sie müssen eine Meldung an die AGES machen. Wo das denn stünde, fragt mich der Dr. allen Ernstes. Und, wie der Teufel es haben will, wusste ich nicht nur dass das im Arzneimittelgesetz steht, sondern auch noch in welchem Paragraphen. Dann werde er das halt machen, man werde ja sehen was die AGES dazu sagt.

Natürlich hat der Herr Dr. keine Meldung an die AGES gemacht, ich habe das höchst gewissenhaft überprüft, und es dann eben selber erledigt. Geht höchst unkompliziert und online. Und tatsächlich ist die AGES dann ebenso sauer gewesen wie ich, aus ganz genau den gleichen Gründen. Denn ja, es ist bekannt dass sowas passiert, und das war ja auch der Grund warum ich dem S. siebenhundertdrölfzig Mal aufgetragen habe, dem Herrn Facharzt genau zu sagen warum und wieso und weshalb, und das hat der S. ja ganz offensichtlich auch brav gemacht. Und wie, ganz nebenbei, glaubt so ein Facharzt, kommen die Nebenwirkungen mitsamt den Häufigkeitsangaben in die Beipackzettel? Der Frau Apothekerin hier habe ich die Geschichte kurz erzählt, die schaute mich an und meinte: Oh. Die Schuld gehört dem Herrn Dr. aber ganz alleine. Die AGES war ja nicht ganz so deutlich, aber doch.

Was bleibt, sind trotz allem die Selbstvorwürfe. Was tut man in so einem Fall wirklich? Der Freund meiner Tochter hat versucht, den S. zu treffen, damit er ihn im Zweifelsfall zu einem Arzt resp. in ein Krankenhaus bringen kann, er hat versucht ihn in seiner Wohnung zu finden, in der Umgebung Ausschau gehalten, er hat getan was er konnte. Wir haben versucht ihn telefonisch zu erreichen. Wenn ein Mensch zusagt, dass er kommt, und dann kommt er nicht, muss man tatsächlich immer sofort das Schlimmste befürchten? Muss man kontrollieren, ob jemand, der verwirrte Vorwürfe macht, tatsächlich bei der Schwester zum Essen erscheint, besonders, wenn man weder die Schwester noch deren Namen und Adresse kennt? Die Türe aufbrechen lassen um zu schauen ob der Mensch da ist, aber mit welcher Begründung, und was dann? Die Polizei rufen, und der was erzählen? Dass jemand verwirrt geredet hat, und man jetzt nicht weiß wo er ist? Die Polizei hat mir gesagt, sie kommen nur bei Gefahr in Verzug, also wenn jemand an Leib und Leben gefährdet ist – kann man das nach Telefonaten, in denen keinerlei Drohung ausgesprochen wurde, sagen? Kann man von drohender Suizidalität ausgehen, wenn jemand sagt, dass er eine Woche später mit einem über dies und jenes ernsthaft reden will? Muss man in so einem Fall zur Sicherheit des Patienten lügen und sagen, er habe einen mit dem Umbringen bedroht, oder mit dem Abfackeln von Häusern, oder der Sprengung des Parlaments?

Und wenn man den Menschen nicht findet, und man geht zur Polizei und erzählt denen, dass da was passiert sein könnte? Suchen die den dann? Mit Personsbeschreibung: ca. 50 Jahre alt, 175 cm groß, braune Augen, längere gelockte braune Haare, sehr schlank, Kleidung unbekannt, trägt wahrscheinlich eine Kappe und eine Umhängetasche oder eine andere Tasche? Ist vermutlich irgendwo in Wien unterwegs?

Die Rettung kommt nur, wenn ein Arzt sie ruft und sicherlich kein Verdacht auf Fremdverschulden vorliegt, ansonsten: Polizei. Und die ruft dann, wenn sie es für angebracht hält, die Rettung. Wie erklärt man einem Polizisten, dass die – sogar wenn wir den S. erwischen und festhalten hätten können – für einen Unbeteiligten nicht unlogisch klingenden Vorwürfe reine Hirngespinste sind, und vermutlich auf medikamentösen Einfluss zurückzuführen sind – denn Alkohol hat der S. ja nie getrunken, und „genommen“ hat er nur die Medikamente, die ihm der Arzt verschrieben hat, sonst mit Sicherheit nichts. Und wie kann man dann in der gebotenen Schnelligkeit nicht nur die Polizei, sondern auch die möglicherweise doch herbeigerufenen Rettungsärzte davon überzeugen, dass da was nicht stimmt? Und dann muss man das dem Rettungsarzt – der womöglich nur ein Sanitäter ist – so erklären, dass der das dann im Krankenhaus auch der Aufnahme und diese das dann dem Arzt erklären kann, denn als Nicht-Angehöriger darf man den Patienten ja nicht begleiten. Würde der Patient – wohlgemerkt, in diesem psychischen Ausnahmezustand – auch willig mit der Rettung mitfahren und dort nach dem ganzen Prozedere, das bekanntlich Stunden in Anspruch nehmen kann, dem Arzt wahrheitsgemäß alle zur Beurteilung der Situation notwendigen Angaben, in diesem Fall die halbe Lebensgeschichte, erzählen, und würde der Arzt die richtigen Schlüsse daraus ziehen? Wäre es möglich gewesen, meinen zu diesem Zeitpunkt bestehenden Verdacht per Telefon einem Arzt so plausibel zu machen, dass dieser die entsprechenden Untersuchungen gemacht hätte? Und wie hätte ich diesen Arzt wohl erreichen können?

Was bleibt, sind die Vorwürfe, die man sich macht. Und die Fragen nach dem, was man übersehen hat, was man – in diesem Fall ganz eindeutig ich – hätte tun können, sollen, müssen.


Am 24.12.2013 hätte der S. seinen 51. Geburtstag gefeiert.

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ganz und gar keine Weihnachtsgeschichte V/VI
Es ging dann alles über die Bühne, die Küche wechselte den Besitzer tatsächlich über Ebay, der S. bekam auch Geld dafür: dreihundert Euro netto. Allerdings wollte die Hausverwaltung dann in der Wohnung den im Mietvertrag beinhalteten Gasherd und die Abwasch wieder haben – dass da kein Gasanschluss mehr war, interessierte niemanden. Dass die Stromleitungen allesamt den neuesten Anforderungen entsprachen, übrigens auch nicht. Der S. ließ also einen Gasherd und eine Abwasch hinstellen, ausgemalt wurde auch. Ein paar Gegenstände konnte er verkaufen, aber weit unter seinen Vorstellungen.

Mit den Schallplatten und dem S. war der Freund meiner Tochter zu einem vertrauenswürdigen Händler gefahren, der für alle Platten zusammen weniger bot als der Freund meiner Tochter für einen kleinen Stapel geboten hatte. Da nahm der S. die Schallplatten wieder mit nach Hause. Der Freund der Tochter meinte damals, der S. sei der traurigste Mensch, den er je kennengelernt habe.

Ein anderer Freund hatte das alles auch nicht mit ansehen können und kaufte dem S. ein paar Sachen ab, die er eigentlich nicht brauchte.

Und so weiter.

Leider hatte der S. auch einen Kredit von der T. übernommen im Zuge der Erbschaft, und durch die ganze finanzielle Misere war da eine gröbere Summe offen, aber wenn wir so nachrechneten, dann sollte sich das jetzt alles ganz gut in einem überschaubaren Zeitrahmen erledigen lassen. Die T., sagte er, hätte ihm ohnehin aufgeschrieben dass er mit allen Erledigungen zu mir kommen solle, ich würde ihn sicher gut beraten, aber er habe mich nicht belästigen wollen, und jetzt – ach geh, sagte ich, passt schon, jetzt kriegen wir das auch noch auf die Reihe.

Immer wieder redete ich dem S. zu, er solle zum Arzt gehen, er werde immer weniger. Ich kannte ihn ja lange genug, er war immer dürr, aber da hatte er wohl nur mehr etwas über die 40 Kilo. Wir trafen uns oft, im Sommer sitz ich gerne am Abend in einem Schanigarten herum, der S. war eine angenehme Gesellschaft, und vertrug sich mit jedem. Und wenn ich zwanzigmal sagte, S., iss was und trink was, dann tat er das auch brav. Denn mit dem Trinken hatte der S. es nicht so, da hatte die T. schon immer geschimpft: dem reichen an Flüssigkeit fünf große Mokka am Tag. Der S. war auch – wenn er Luft bekam – für seine Verhältnisse richtig gesprächig geworden: ich sei ja der einzige Mensch, mit dem er noch über die T. reden könnte, zu seiner Verwandtschaft war ihr Verhältnis nicht so gut gewesen, und ab einem gewissen Alter werden die Menschen um einen immer weniger, Kontakte verfliegen sich, es war niemand mehr da der die T. so lange gekannt hatte wie ich.

Ende September hat der S. die Wohnung übergeben. Es schien ihm ein Stein vom Herzen gefallen zu sein. Er würde jetzt, meinte er, seine neue Wohnung fertig basteln und dann Zug um Zug die Sachen aus den Zwischenlagern übersiedeln, und sich dann zumindest von alten Zeitschriften etc. trennen. Es müsse doch weitergehen. Ob ich ihm dann ein wenig Kochen beibringen könnte? Und ihm wieder so Geselchtes und Würstl vom Land besorgen? Klar, machen wir, meinte ich. Überhaupt wolle er jetzt wieder auf seine Gesundheit schauen, beim Arzt sei er schon gewesen, es ginge ihm besser. Infusionen habe er bekommen, und Tabletten, und Luft kriege er auch wieder. Hast ihm alles erzählt, fragte ich, ja, sagte er, alles, auch von der Wohnung und der Anstrengung und dass mich das schon sehr belastet. Er habe wieder Medikamente verschrieben bekommen, und er sah auch tatsächlich besser aus. Und ja, versicherte er mir noch einmal, er habe dem Arzt alles erzählt.

Ein bisserl Beschäftigung hatte ich auch wieder für ihn in Aussicht – nix Anstrengendes, mehr so Anwesenheitsdienst, aber fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt, und nur was für wirklich verlässliche Leute. Das freute den S., nix tun sei ja nicht so seines, aber können und wollen sind halt manchmal verschieden.

Er hatte im Sommer die Katzen und Pflanzen meiner Tochter versorgt, mit Tieren konnte der S. immer gut, sogar Dat Julchen, bekannt als: „sie kenn ich nicht, mit ihnen sprech ich nicht“ kam immer zu ihm auf den Schoss und knutschte. Und von Pflanzen verstand er unglaublich viel.

Nun hatte mir meine liebe Tochter zum 60. Geburtstag einen Ausflug nach Berlin geschenkt, und was lag also näher als den S. zu fragen ob er wohl eine Woche lang Katzen und Piepkis füttern und tränken könnte? Er wohnte ja jetzt nur fünf Minuten entfernt. Klar, mach ich gerne, das weißt du doch, meinte er. Am Samstagabend kam er also, die Wohnung kannte er sowieso, ich erklärte ihm nochmal alles, wir tratschten über Gebühr lang, ich gab ihm noch ein Fresspaket mit und begleitete ihn bis vor seine Haustür, Frau Pixy musste ja auch noch einmal runter. Frau Pixy war – wie alle Tiere – ganz fest mit dem S. befreundet, und das bis-nach-Hause-begleiten machte sie ganz von selber: sie wusste genau, wo ihr Freund wohnt und hoppelte rücksichtsvoll ein wenig langsamer als sonst. Bringt viele Fotos mit, sagte der S. zum Abschied, ich freu mich schon wenn ihr mir alles erzählt.

Am 13.10., Sonntag früh, fuhren wir also los, nachmittags rief der S. an, ob ich sicher sei dass er alle Lampen brennen lassen solle, der Strom – S., sagte ich, das sind alles Sparlampen, das telefonieren kostet mehr als der Strom. Okay, sagte er.

Sonntagabend waren wir in Dresden, trafen eine Dame aus dem Internetz, und hatten einen lustigen Abend. Am Montag gondelten wir durch die Niederlausitz, kauften ein paar Orchideen und Tillandsien, auch für den S., tranken Kaffee in Cottbus, schauten uns Eisenhüttenstadt „30 Jahre danach“ an, und schlugen am Abend in Berlin auf.

Am 15.10., am späten Dienstagvormittag, läutete das Telefon, S., etwas verwirrt, wie es schien, seine Schwester habe ihm gesagt wir hätten ihn alle nur betrügen und über den Tisch ziehen wollen, das sei uns auch gelungen, habe seine Schwester gesagt, er hätte für alles viel mehr bekommen müssen, das sei reine Abzocke gewesen, blablabla. S., sagte ich, denk einmal nach mit wem du redest, die Leute die du ausgesucht hast hat dir deine Schwägerin geschickt, ich kenn die noch nicht einmal! Das ging so eine Weile hin und her, und dann sprach er mit meiner Tochter, und wir waren einigermaßen entsetzt, so kannten wir ihn nicht. Ich rief ihn dann noch einmal an, irgendwie hatte ihm seine Schwester ein Prepaid-Handy gegeben, also rief er von dem einen Gerät an, ich ihn auf dem anderen zurück, das war ein wenig chaotisch, ich beruhigte ihn dann, wir würden über das alles sprechen wenn ich wieder in Wien sei, gerne auch mit seiner Schwester.

Auch den Freund meiner Tochter rief er im Laufe des Tages mehrfach an, fragte, ob er ihn zu einem Termin bei der Hausverwaltung begleiten könne, da könne er einen Zeugen gut gebrauchen, dann wollte er sich Geld ausborgen, erst 200, dann 400 Euro, der Freund der Tochter hatte in der Zwischenzeit mit uns telefoniert, und sagte zu allem ja damit er des S. habhaft werden und weiter entscheiden könnte. Er lud ihn auch zum Essen ein – aber der S. meldete sich nicht mehr. In der Nacht verschickte der S. dann zwei leere SMS, eine an den Freund meiner Tochter, eine an den Freund, der ihm eben ein paar Sachen abgekauft hatte.

Der S. hatte mir gesagt, am Abend gehe er zu seiner Schwester, die habe ihn zu einer Pilzsauce mit Knödel eingeladen. Dass er da nicht mit uns telefonieren wollte oder konnte, war klar, dass der S. sich allerdings beim Freund meiner Tochter nicht mehr gemeldet hatte war bedenklich, aber andererseits hatte sich die T. schon immer darüber aufgeregt dass man mit dem S. nicht streiten konnte: der ging einfach fort, schlief bei seiner Schwester oder seinem Bruder, und meldete sich ein paar Tage lang nicht.

Am 16.10., Mittwoch, versuchte ich den S. zu erreichen: er hob nicht ab. Der Freund meiner Tochter versuchte ihn ebenfalls zu erreichen: nix. Er fuhr in meine Wohnung, offensichtlich waren die Viecher versorgt, soweit also alles im grünen Bereich. Er schaute in der Umgebung herum: nix. Den letzten Versuch, den der Freund noch machte, war, in das Haus zu gehen in dem der S. wohnte, und zu sehen ob er ihn dort antreffen könnte. Stock und Türnummer wusste er nicht mehr, aber man würde, so dachte er, ein Telefon klingeln hören: nix. Im Stiegenhaus war eine Polizistin, die den Namen des S. nicht kannte, und sich überhaupt sehr gelassen und unaufgeregt präsentierte.

Am 17.10., Donnerstagvormittag, rief mich G., die Schwester des S., an, und sagte mir dass der S. am Dienstagabend nicht essen gekommen sei, deshalb sei ihr Mann am Mittwochnachmittag zur Wohnung gegangen, habe mit dem Zweitschlüssel geöffnet, und den S. erhängt in der Küche gefunden.

tbc.

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